“Ich habe den Eindruck, Gott möchte dich bald einer Herz-OP unterziehen.“ Diese Worte eines Freundes hallten im letzten Jahr immer wieder in meinen Ohren wider. Im Spätsommer 2019 hatte er mir nach dem Gottesdienst diesen Eindruck mitgeteilt und ich spürte, dass dies ein Eindruck war, der bald real werden würde. Schon lange fühlte ich mich immer wieder in der Rolle als Pastorin überfordert. Mein Mann und ich hatten die Leitung einer Freikirche gemeinsam zwei Jahre zuvor übernommen. Am Zeitpunkt der Einsetzung als Pastoren war unsere Tochter gerade acht Monate alt und ich versuchte in die Rolle einer Mama im doppelten Sinne reinzuwachsen: “Du bist die Mama dieser Kirche” war ein Satz, den ich immer wieder hörte. Klar er sollte mich ermutigen und bestärken, gleichzeitig löste er immer wieder Druck in mir aus. Es war mir ein Bedürfnis die Teams, deren Leitung ich bei der Einsetzung bekommen hatte, gut zu leiten und vor allem für die Frauen dieser Kirche da zu sein, sie zu bestärken, zu ermutigen und für sie geistlich zu kämpfen. Ich wollte meinen Mann unterstützen und ihn mit meiner Art ergänzen. Gleichzeitig wollte ich für meine Tochter da sein und mich auf sie fokussieren….Dabei verdrängte ich das eigene Bedürfnis, selbst eine geistliche Mama oder Unterstützung bei all dem zu haben.
Nach Monaten des Versuchs das alles zu jonglieren gab es immer wieder Situationen, in denen ich mich persönlich angegriffen, ja verletzt fühlte. Diese machten eine Zusammenarbeit oft schwierig und ich spürte, wie meine Leidenschaft und Freude für die Menschen, für Gott und Kirche immer weniger wurden. Panikattacken bei banalsten Situationen bestimmten meinen Alltag über mehrere Wochen.
Im Oktober 2019 merkte ich, dass es an der Zeit war, diese “Herz OP” zuzulassen. Gemeinsam mit meinem Mann und unseren Leitern entschied ich, das Jahr 2020 aus allen Verantwortungen und Rollen in der Kirche auszusteigen und Gott und mir diese Zeit zu geben, mein Herz unter die Lupe zu nehmen: Wo sind Wunden aus der Vergangenheit, die aufreißen und Schmerzen verursachen? Wo quellen Bakterien und Eiter aus diesen Wunden und machen mich krank? Wo sind Triggerpunkte in meiner Seele und wie genau sehen sie aus? Mit diesen Fragen startete ich in das Jahr 2020: Ängstlich und gleichzeitig voller Vorfreude. Ich war überzeugt, dass dieses Jahr Durchbrüche in meinem Leben bringen sollte.
Die ersten Monate waren gefüllt mit kleinen Panikattachen und emotionalen Zusammenbrüchen. Ich merkte plötzlich, dass ich überhaupt keine Ahnung hatte, wer ich bin. Wer steckt hinter der Rolle der Pastorin und Mama? Was bleibt mir denn, wenn ich nicht predige? Wer ist denn noch da in meinem Leben – wenn nicht die Mitarbeiter unserer Kirche? Was macht mein Leben für einen Sinn, wenn ich nicht dienen und anderen helfen kann? Wozu hatte ich studiert und mich so lange (schon in Teenagerzeiten) darauf vorbereitet in der Kirche zu arbeiten, wenn ich nun nichts davon einbringen kann oder zur finanziellen Verbesserung beitragen kann?
Der Identitätskrise folgte eine Glaubenskrise und der Glaubenskrise eine Wüstenzeit. Meine Idee war: Wenn ich das Pastorensein und die Kirche komplett von mir wegschiebe, dann weiß ich endlich, wer ich bin und mein Herz kann heilen….Ich glaubte unbewusst der Lüge, dass die “Kirche” an meinen Panikattacken und meinem kaputten Herzen Schuld war. Also wollte ich mich abgrenzen und das Leben neu genießen und anders leben.
Als ich mich endlich wieder aufgerappelt hatte, das war im Frühjahr 2020, hatte ich endlich neue Ideen, was ich in diesem Jahr mit mir anfangen könnte um mich nicht ganz in der Reflektionsspirale zu verlieren: Ich wollte Schreiben, ein Fernstudium beginnen und am liebsten in einer Bücherei oder einem Buchladen arbeiten. Ich wollte einen Volkshochschulkurs belegen um neue Kontakte zu schließen, mich mehr in verschiedenen Dingen außerhalb der Kirche integrieren und war fest davon überzeugt, das alles nun anzugehen und einfach mal das zu machen, was ICH gerne wollte.
Dann kam Corona.
Der erste Lockdown.
Der Kindergarten wurde geschlossen und ich saß Zuhause mit meiner Tochter. Anstatt Texte zu schreiben, las ich nun Kinderbücher vor, anstatt Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen, vertiefte ich die Beziehung zu meiner Tochter. Anstatt etwas neues zu studieren, nahm ich meine praktischen Lehren aus dem abgeschlossenen Studium und kreierte Spiele für meine Tochter, erfand Geschichten und die Kreative Ader in mir pulsierte wieder- für sie.
Als alle anderen um mich herum Stöhnten und die fehlenden Kontakte und Treffen vermissten, merkte ich plötzlich, dass es mir gut tat. Es tat mir gut, ruhige Zeiten Zuhause zu haben und mit meiner Tochter kreativ zu sein. Es tat mir gut, mich selbst besser kennen zu lernen anstatt andere Menschen kennen zu lernen. Es tat mir gut, wenig Möglichkeiten zu haben, in denen ich darüber nachdenken könnte, was andere von mir denken oder in denen ich mich unbewusst verbiegen würde. Ich war Zuhause. Mit meiner Tochter und meinem Mann.
Im Mai nahm ich mir vor, die Bibel einmal komplett in 30 Tagen zu lesen. Ich hatte das schon einmal vor fünf Jahren getan und wollte es noch einmal wagen. Ich machte mir bewusst keinen Druck sondern versuchte es einfach in dem ich startete. Nicht, um etwas durchzuziehen, sondern vor allem mit der Erwartung, dass Gott zu mir sprechen würde, und selbst wenn es um irgendwelche Generationsregister gehen würde.
Obwohl ich es nicht für Möglich gehalten hatte, gelang es mir, täglich knapp 40 Kapitel zu lesen, mit einer Tasse Tee in der Hand und einer Tochter, die zufrieden war und manchmal auf meinem Bauch einschlief, während ich ihr aus 2. Könige vorlas.
Eine Freundin von mir erklärte sich bereit, sich monatlich mit mir über Video-Calls zu treffen und mit mir gemeinsam durch Gebet und prophetische Eindrücke die Wurzeln mancher Wunden und falscher Denkmuster zu erforschen und mit Gott gemeinsam rauszureißen. Ich hatte in ihr eine „geistliche Mutter“ gesucht und eine wunderbare Begleiterin, Schwester, Mitkämpferin und Ermutigerin gefunden. Mit ihr gemeinsam über Video-Calls zu beten, zu hören, Eindrücke zu teilen und in Gottes Gegenwart zu gehen, waren die größten und heilsamsten Schritte auf diesem Weg durch die Wüste.
Während ich im Sommer noch ab und zu weinte, weil meine ganzen Vorhaben nicht in die Tat umgesetzt werden konnten, schaue ich jetzt glücklich zurück: Ich hätte es mir nicht ausgesucht, immer wieder isoliert zu sein. Ich hätte nicht daran gedacht, dass diese Herz-OP in einer Wüste stattfinden würde. Aber genau das war es: Das Jahr 2020 war mein Wüstenjahr.
Jesus zog sich selbst immer wieder an “Wüstenorte” zurück. Nach seiner Taufe, nachdem die Autorität und Identität von Gott öffentlich gemacht wurde, wurde er in die Wüste geführt. Die “Wüste” ist in der Bibel ein Ort der Buße, der Reflektion, der Läuterung aber auch der Versuchung und des Widerstehens. Die Wüste 2020 war für mich genau das.
Es kam alles anders als gedacht, aber für mich war es genau so richtig. Die monatlichen Gebete und Gespräche mit meiner Freundin, die weit weg wohnt, hätten vielleicht sonst nicht stattgefunden.
Die vielen gemeinsamen Bastel- und Lesestunden mit meiner Tochter haben eine neue Tiefe geschaffen.
Die ständigen Reflektionen und herausfordernde Gespräche mit meinem Mann haben eine neue Ebene der Kommunikation in unserer Ehe ermöglicht…
Die Regelungen des Abstands und der Isolation gaben mir die ungewollte Möglichkeit, ruhig zu werden und das Reden Gottes lauter werden zu lassen. Ich bin nicht mehr abhängig von dem, was andere sagen, ich bin sensibler geworden für Gottes Eindrücke, seine Stimme und sogar für die Unterscheidung seines Redens von dem des Feindes. Ich konnte die Beziehung mit Gott vertiefen und mich selbst besser kennen lernen, in dem ich mehr und mehr sehen und verstehen lernen konnte, wie Gott mich sieht und von Anfang an gesehen hat.
Und nun kann ich gestärkt und mit klarem Fokus einen neuen Platz in der Kirche einnehmen. Mit einem Herzen ohne Wunden und Narben, das kräftig schlägt und weiß, wie es sich schützt: In dem gesunde Grenzen aufgebaut werden durch regelmäßige Zeiten der Isolation und Reflektion in der Wüste.
Die Corona-Situation ist nicht leicht. Sie ist herausfordernd und bringt viele Menschen an ihre Grenzen. Es brachte auch mich an die Grenzmauern und doch möchte ich dich ermutigen: Mit Gott kannst du über diese Mauern springen und neues, unentdecktes Land erforschen. Vielleicht sogar, das unentdeckte Land deines Herzens.
Isolation und Veränderungen können herausfordern und Panik auslösen oder sie können eine Chance sein, in der Gott neue Wege aufzeigt und neue Sichtweisen schenkt.